Marokko – COVID-19 Gesundheitsnotstand beendet – Die Folgen bleiben.

Pandemie deckte Schwächen des sozialen und wirtschaftlichen Systems auf.

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Regierung verzichtet auf Verlängerung des seit drei Jahren geltenden COVID-19 Gesundheitsnotstands und muss mit den Folgen weiter umgehen. Politische, soziale und wirtschaftliche Entwicklung wird auf Jahre von der Pandemie beeinflusst bleiben.

Rabat – Augenscheinlich hat der marokkanische Staat darauf verzichtet, den sog. COVID-19 Gesundheitsnotstand rechtzeitig zu verlängern. Es gibt zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung noch keine offizielle Erklärung oder Bestätigung der Regierung, doch formal endete der COVID-19 Gesundheitsnotstand am 28. Februar 2023.

In der vergangenen Woche tagte der marokkanische Regierungsrat, unter Führung des Premierministers, ohne den seit drei Jahren geltenden Gesundheitsnotstand zu verlängern. Damit ist diese juristische Grundlage für mögliche Einschränkungsmaßnahmen, Eingriffe in Freiheitsrechte und Vorgaben im Zusammenhang mit der COVID-19 Pandemie ausgelaufen.

Dieser juristische Rahmen war in den vergangenen 36 Monaten die Basis für die Regierung, um sog. außergewöhnliche Maßnahmen, seien es wirtschaftliche, finanzielle, soziale oder ökologische, ergreifen zu können. De facto hat damit Marokko den COVID-19 Notstand und damit auch praktisch die Pandemie für sich beendet.

Zahlreiche Einschränkungen während der Pandemie

Auf der Basis des COVID-19 Gesundheitsnotstands hat Marokko in den vergangenen drei Jahren teils drastische und umfängliche Maßnahmen im Kampf gegen die COVID-19 Pandemie ergriffen. Diese umfassten Lockdowns mit Ausgangssperren, Versammlungsverbote, Schließung von Moscheen und andere religiöser Einrichtungen, Verboten von Sportveranstaltungen oder privaten Treffen bis hin zu Reisebeschränkungen und monatelangen Grenzschließungen. Aber auch Fabrikschließungen und die Einführung von Telearbeit (Homeoffice) gab es teils über Wochen.

Diese Einschränkungen wirkten sich auch auf das politische Leben im Land aus, weil z.B. durch das Versammlungsverbot Demonstrationen oder Wahlkampfkundgebungen gar nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich gewesen sind, wobei man trotz allem eine Parlamentswahl im Jahr 2021 erfolgreich organisieren konnte.

Immer wieder gerieten die Politik und die Behörden in Verdacht, dass sie diese Einschränkungen gezielt auch zur Verhinderung von Protesten genutzt haben. Dies wäre nun so nicht mehr möglich.

Marokko zeigte, dass es Krisen bewältigen kann.

Obwohl gerade die wirtschaftlichen Folgen der Eingriffe in die Freiheitsrechte und in das Arbeitsleben im Land nach wie vor zu spüren sind und nicht wenige Menschen in Marokko einen signifikanten Wohlstandsverlust hatten oder in noch tiefere Armut gerieten, als vor der Pandemie, hat das nordafrikanische Königreich gezeigt, dass es eine Krise bewältigen kann.
Nach einer Einschätzung der Hohen Kommission für Planung HCP haben die Pandemie und die aktuelle Inflation das Land ca. sieben Jahre Entwicklung und Fortschritt bei der Armutsbekämpfung gekostet.

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In Marokko blieb eine medizinische Katastrophe wie in Italien oder Indien aus. In Italien starben nach aktuellen Angaben und bis heute über 188.000 Menschen im Zusammenhang mit dem Coronavirus SARS-COV 2. In Deutschland sind es inzwischen ca. 168.000 und in Indien starben nach offiziellen Angaben 531.000 Menschen im Zusammenhang der COVID-19 Pandemie.
Einigen der Leserinnen und Leser sind die Bilder von militärischen Leichentransporte in Norditalien oder den Scheiterhaufen bei der Bestattung in Indien in Erinnerung. Solche Bilder sind Marokko erspart geblieben, auch wenn die Präsenz von Militärfahrzeugen in den Straßen der Großstädte auch Eindruck hinterlassen hat. Das Land beklagt bis heute weniger als 16.300 Todesopfer.

Früh hat sich das Land auch dem Thema Impfen zugewendet und nicht wenige Länder des Westens staunten über Wochen und Monate nicht schlecht, als das Königreich, als afrikanisches Land, mit an der Spitze der Länder mit einer hohen Anzahl von Erstimpfungen geführt wurde. Immer wieder lobte die Weltgesundheitsorganisation WHO Marokko für sein Handeln, im Kampf gegen die Pandemie.

Es gelang Rabat nicht nur, durch Kooperation mit China, dem Preiswettbewerb mit Europa auszuweichen und die eigene Bevölkerung mit Impfstoffen zu versorgen, sondern der Bevölkerung durch ein effektives System aus Mobilfunk und digitalisierter Verwaltung sowie einer eigenen Corona-App den organisierten Zugang zu Impfstoffen zu ermöglichen und dies ohne offizielle Impfpflicht sowie kostenfrei.

Zugleich liefen in den meist staatlichen Medien umfangreiche Aufklärungs- und Werbekampagnen, Stellungnahmen von Medizinern und Regierungsmitgliedern, um die Menschen zu informieren und auch den vielen Gerüchten, gezielten Falschmeldungen vor allem in den sog. sozialen Medien und den sich daraus ergebenen Unsicherheiten zu begegnen.

Pandemie deckte Schwächen des sozialen und wirtschaftlichen Systems auf.

Unter dem Brennglas der COVID-19 Pandemie wurden teils lange und bewusst verdeckte Defizite im Land unübersehbar.
Vor allem die sehr hohe Zahl an unregulierten und prekären Arbeitsverhältnissen. Plötzlich ließ sich nicht mehr übersehen, dass mehrere Millionen Menschen ohne sozialen Schutz und praktisch von der Hand in den Mund arbeiteten und lebten. Ihnen wurde, soweit es möglich war, durch Finanztransfers aus dem COVID-19 Fonds geholfen, der erst mit 10 Mrd. marokkanische Dirham MAD geplant war, aber durch Spenden auch aus der Diaspora auf über 32 Mrd. MAD anwuchs. Aber auch die Staatsverschuldung wuchs und wächst weiter. Impfstoffe aus den USA oder Europa haben Geldgekostet und auch Treibstoff sowie Gas haben zu abfließenden Mittel geführt. Die ganzen Sonderausgaben für medizinische Ausrüstung und für die Ausstattung des Krankenhäuser, die nun aber auch zumindest in den Großstädten auf einen besseren Stand sind, war teuer und teilweise Kreditfinanziert.

Aus diesen Erfahrungen heraus beschleunigte nun die Regierung, auch auf Druck von König Mohammed VI., den Auf- bzw. Ausbau des Sozialsystems durch die Schaffung einer obligatorischen Krankenversicherung sowie zukünftig einer Arbeits- und Rentenversicherung. Auch das bisherige Prinzip der Gießkannensubventionen soll einem Sozialhilfesystem nach europäischem Vorbild und mit indischer IT-Unterstützung weichen, dass durch eine Vorab-Registrierung und Bedürftigkeitsprüfung deutlich gezielter und effizienter Hilfe leisten soll. Die Pandemie hat all diese Prozesse beschleunigt.

Was noch nicht konzeptionell angegangen worden ist, sind neue Wege im Bildungssystem. Wie fast überall auf der Welt waren Kinder und ihr Bildungsweg durch die COVID-19 Pandemie und den Schutzmaßnahmen betroffen. Die Pandemie traf auf ein ohnehin teures aber ineffizientes, Bildungssystem und obwohl man durch Schulungsangebote per TV und Onlinedienste versucht hat, gerade während er Lockdowns, ein Angebot aufrecht zu halten, hatten nicht alle Kinder die technischen Voraussetzungen, die Angebote zu nutzen und die fehlende Unterstützung durch einen Lehrer konnte durch das Elternhaus kaum aufgefangen werden.

Hier wird sich noch zeigen müssen, wie sich das Bildungsniveau dieser Pandemiegeneration entwickeln wird, in einem Bildungssystem, dass zwar Wissen vermittelt, aber seit jeher nicht zu eigenständigem, kritischem oder kreativem Denken animiert.

Umbau der Wirtschaft geht voran.

Während das Land, dass als Tor zu Afrika gilt und vor allem wegen seiner relativen politischen Stabilität in der Region für Investoren aus Europa und den USA an Reiz gewinnt, in den letzten zwei Jahrzehnten hauptsächlich in die Infrastruktur, in Häfen, Straßen und Flughäfen, investiert hat, in Afrika sicherlich zu den am besten ausgestatteten Ländern gehört, hat man in der gleichen Zeit darauf vertraut, dass die Wirtschaft praktisch von der staatlichen Dynamik mitgerissen wird.
Doch dem ist nicht so und die Pandemie hat dies gezeigt.

Noch immer ist das Wirtschaftswachstum, angesichts der staatlichen Investitionen und der staatlichen Investitionsquote, die bei 50% und mehr liegen dürfte, zu gering. Und wären da nicht die auf Rekordniveau angestiegenen Überweisungen (Rücküberweisungen) der im Ausland lebenden Marokkanerinnen und Marokkaner (MRE) an ihre Verwandten während der Krise, die im Jahr 2022 wohl 109 Mrd. MAD erreicht haben dürften, dann wäre nicht nur der Inlandskonsum geringer, sondern der Bestand an harten Devisen, den man in Marokko zur Absicherung der Landeswährung und um das hohe Außenhandelsdefizit auszugleichen benötigt, wäre viel geringer mit nicht abzusehenden Folgen für die Währungsstabilität und Kreditwürdigkeit des Landes.

Notwendigkeit alte Sektoren weiter zu stützen.

In seiner Not und im Streben die Arbeitslosenquete gerade bei den jüngeren Menschen im Alter unter 24 Jahren zu verringert, setzt man weiterhin auf klassische Sektoren wie Tourismus, Textilwirtschaft und Automobilbau. Vor allem der Tourismus musste mit Milliarden MAD während der Pandemie gestützt werden.
Doch allen beteiligten ist klar, dass dies keine langfristige Lösung sein kann. Denn die Wirtschaftskraft und Neigung zu Fernreisen der Menschen im wichtigsten Tourismusmarkt, Europa, geht, im Zusammenhang mit der Rezession sowie Inflation, in vielen EU-Staaten und wegen des Umdenkens hinsichtlich des Klimawandels zurück.
Fliegen wird teurer und gilt als klimaschädlich, was langfristig Einfluss haben wird.

Den Automobilbau hat man eigentlich nicht in den eigenen Händen, sondern man ist Standort für ausländische Investoren. Ein Wissenstransfer, der zu eigenen Entwicklungen führt, wurde zwar mitgedacht, hat aber kaum erste Früchte erbracht.

Die Landwirtschaft, die wichtige Exportgüter bereitstellt, ist von Dürre und Wassermangel betroffen.

Neue Einnahmequellen werden gesucht.

Die marokkanische Wirtschaft sucht daher einen Weg, nicht nur die Folgen der Pandemie zu überwinden, sondern neue Sektoren zu entwickeln.

So will sich das Land als alternativer Standort für die Produktion von Gütern zu China und Indien, direkt vor den Toren der EU und gegenüber den USA positionieren. Dazu bringt es tatsächlich viele Vorteile mit.

Neben der Nähe und den geringeren Sprachbarrieren, steht eine verhältnismäßig gute Infrastruktur bereit. Auch an Arbeitskräften mangelt es nicht, wenn Investoren bereit sind, auch Ausbildung zu leisten und ein Bewusstsein für Qualität zu vermitteln. Die Wege für Europa und die USA sind kürzer und das Lohngefälle ist signifikant. Viele bürokratische Gegebenheiten sind bereits auf Europa ausgerichtet und der Korruptionsstand ist zwar signifikant, aber letztendlich nicht dramatisch schlimmer als in einigen anderen asiatischen Ländern oder in Mittel- oder Südamerika.

Dabei setzt man auch auf die im Ausland lebenden Marokkanerinnen und Marokkaner. Hier rief sogar König Mohammed VI. in einer seiner seltenen reden dazu auf, Investitionen dieser Gruppe der MREs zu unterstützen und mögliche Hemmnisse zu beseitigen. Gerade die MREs, die zwar bereit sind ihre Familien mit Transferleistungen zu unterstützen, neigen nicht zu Investitionen, mit Ausnahme von Immobilienkäufen. Sie schaffen aber nur selten direkte Arbeitsplätze.

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Zum gleichen Zeitpunkt baut Marokko neue Wirtschaftszweige auf. So hat man kürzlich den Aufbau einer eigenen Pharmaindustrie in Angriff genommen, setzt dabei auch auf Cannabis, dessen Anbau und Vermarktung nun gesetzlich geregelt wird, sowie auf Impfstoffe aller Art, die zunächst abgefüllt aber später auch hergestellt und vor Ort entwickelt werden sollen.

Die Digitalisierung ist ein weiters Feld. Hier will man als Dienstleister präsent sein und fördert den Aufbau von Serveranlagen und Glasphaserleitungen, wobei der quasi Monopolist in diesem Sektor wegen Marktbehindernder Maßnahmen bestraft wurde. Bereits jetzt nutzen große Unternehmen wie Amazon oder Dell marokkanische Standorte und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, um Serviceleistungen z.B. in Deutschland anzubieten. Wer heute bei Amazon Deutschland den Service kontaktiert, sei es telefonisch oder per Chat, könnte nicht selten mit einer Person interagieren, die sich in Marrakech, Casablanca oder Rabat befindet.

Das Königreich ist zugleich bestrebt eine eigene Luft- und Raumfahrt- sowie Rüstungsindustrie aufzubauen. Hier will man vor allem bei der zivilen Luftfahrt mit Boeing aus den USA kooperieren und Standorte für Wartung in Fés aufbauen. Mit Hilfe Israels werden Produktionsstätte für Waffensysteme errichtet, die der eigenen Versorgung, aber mit Blick auf Afrika, auch dem Export dienen könnten.

Zugleich baut Marokko neue Wirtschaftszweige auf. So hat man kürzlich den Aufbau einer eigenen Pharmaindustrie in Angriff genommen, setzt dabei auch auf Cannabis, dessen Anbau und Vermarktung nun gesetzlich geregelt wird, sowie auf Impfstoffe aller Art, die zunächst abgefüllt aber später auch hergestellt und vor Ort entwickelt werden sollen.

Energie soll neuer strategischer Sektor werden.

Dabei fährt das Land Mehrgleisig. So werden eigene Gasvorkommen mit britischer Hilfe erschlossen und mit Nigeria sowie weitere Staaten Westafrikas der Bau einer 6.000 km langen Pipeline vorangetrieben, die auch der Versorgung Europas dienen soll. Zugleich scheint man in Rabat sich dem Thema Kernenergie zuwenden zu wollen. Augenscheinlich setzt man hier auf Russland, aber auch Frankreich und Israel könnten zukünftig Partner sein.

Doch wichtigster strategische Ansatz ist die Positionierung als Exporteur von umweltfreundlicher Energie, vor allem „Grüner Energie“ aus Windkraft, Solar und in Form von Wasserstoff. Das Land besitzt weite und teils unbewohnte Flächen, vor allem wenn man die Westsahara mit einbezieht, so dass es an Platz für Windparks und Solarkraftwerken nicht mangelt. Auch der benötigte Wind und die Sonne sind im Überfluss gegeben. Wie die Pandemie gezeigt hat, können die marokkanischen Behörden auch schnell und effizient agieren, wenn der politische Wille gegeben ist.

Die Attraktivität für Investoren wurde nun nochmals gesteigert. So wurde das Gesetz zur Einspeisung und Vergütung von selbst produziertem Strom geändert, so dass jetzt jeder seinen eigenen Strom herstellen und Teile gegen Vergütung ins Netz einspeisen kann.

Zugleich hat die Regierung unter Führung von Aziz Akhannoch begonnen, mit dem Haushaltsgesetzt 2023, die Körperschaftssteuer von derzeit durchschnittlich 35% bis zum Jahr 2026 auf durchschnittlich 20% zu senken. Zieht man in Betracht, dass für viele Investoren bei einer Unternehmensgründung bis zu 5 Jahre Steuerbefreiung und Zuschüsse für die Sozialabgaben in Aussicht gestellt werden, wird hier eigentlich ein attraktives Paket angeboten.

Was die Pandemie aber weiterhin gezeigt hat, ist, dass viele Bereich der marokkanischen Wirtschaft komplex geschützt werden, um es neuen Wettbewerbern schwer zu machen, einem Markteintritt erfolgreich zu gestallten. Viele Projekte sind vor dem Zugriff neuer Marktteilnehmer geschützt und man kann von protektionistischem Verhalten oder Oligopolen sprechend.
So ist der Markt der Gasversorgung, der Telekommunikation, der Finanzdienstleistungen noch nicht ausreichend dereguliert, bezogen auf neue Markteintritte. Es fehlt auch weiterhin an Vertrauen in den Staat und seinen Institutionen, angesichts schlechter Rankings bei Fragen der Rechtstaatlichkeit oder Meinungs- bzw. Pressefreiheit, Gleichstellung der Geschlechter und ähnlicher Fragen, die aber auch vor dem kulturellen und religiösen Hintergrund zu bewerten sind. Hier gilt es, weitere Entwicklungen einzuleiten. Dies könnte, durch die Erfahrungen aus der Pandemie, gefördert werden.

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